Otherland – Stadt der goldenen Schatten

Gut Ding will Weile haben. Das gilt auch für ein gutes Buch. Damit man das Buch und seine Geschichte wirklich in sich aufnimmt, lasse man sich ausreichend Zeit. Es macht überhaupt nichts, wenn man dann ein Vierteljahr benötigt.

Außerdem läuft das Lesen im Englischen wohl doch nicht ganz so flüssig wie in meiner Muttersprache. Macht nichts. Dafür war das Leseerlebnis um so intensiver. Vielleicht ist es Einbildung, mir scheint aber, ich lese die englischen Originaltexte aufmerksamer und bewusster als deutsche Übersetzungen. So war es bei den Nebeln von Avalon, bei Tolkiens Werken, beim Lied von Eis und Feuer… Und jetzt bei Otherland. Zumindest bei der Tetralogie erstem Teil „Stadt der goldenen Schatten“.

 

Darum geht es

In einer nicht allzu fernen Zukunft, irgendwann im 21. Jahrhundert, ist das Netz, was heute das Fernsehen ist: die allgegenwärtige Quelle von Unterhaltung und Information. Man nutzt das Netz nicht mehr einfach, man begibt sich direkt hinein. Virtual Reality ist keine Fantasie mehr sondern der übliche Zugangsweg zur Onlinewelt.

Nach dem Besuch eines zwielichtigen virtuellen Klubs fällt ein Junge aus unerklärlichen Gründen ins Koma. Zeitgleich stirbt der erfolgreichste Spieler eines Online Fantasy Spiels den virtuellen Tod, nachdem er von einer goldenen Stadt abgelenkt wurde. Ein junger Soldat will dem Grauen des 1. Weltkrieges entkommen und findet sich schließlich ohne Erinnerung an sich selbst und seine Vergangenheit in verschiedenen surrealen Welten wieder. Ein kleines Mädchen hilft einem alten Mann gegen den Willen ihrer Eltern, eine Militärbasis zu verlassen. Während alldessen schmiedet eine geheime Organisation Ränke, um… Nun, das wahre Ziel jener Gruppe wird nicht verraten. Irgendetwas muss für die anderen drei Bücher bleiben. Gemessen am Vorgehen der Bruderschaft muss es aber etwas Großes sein (ja, man könnte im Netz nachschlagen, aber will man sich den Spaß verderben und die Spannung nehmen?). Es gibt Andeutungen, es ist von einem Gralsprojekt die Rede. Man kann also spekulieren, dass es um etwas wie Unsterblichkeit geht. Warum soll sonst das Projekt nach dem Becher benannt sein, der das Blut Jesu auffing und der Legende nach ewiges Leben spendet, wenn man daraus trinkt?

Es ist spekulativ. Wahrscheinlich, ja. Logisch auch. Beweisbar nicht. Es könnte sich auch um den simplen Versuch handeln, den Weltherrschaft zu übernehmen (obwohl diese Menschen die Welt effektiv schon beherrschen). Dass die Mitglieder jenes bösen Konsortiums in der virtuellen Welt als ägyptische Götter erscheinen, offenbart eine gewisse Gier nach Macht und eine überhöhte Sicht auf sich selbst.

 

Etwas ist besonders an der Geschichte

Wer sich nach Otherland wagt, sei gewarnt. Es ist leicht, sich zu verirren.

Ich meine das ernst. Mr. Williams verfolgt mehr als einen Erzählstrang zur selben Zeit. Aus dem Stehgreif komme ich auf 6 Storylines, es könnte aber sein, dass ich gerade etwas übersehe. Es ist dabei nicht immer ersichtlich, ob die Geschichten gerade parallel verlaufen oder zeitlich versetzt sind. Es gibt nur hier und da einen kleinen Hinweis, dass die Ereignisse des vergangenen Kapitels gerade jetzt stattfinden.

In Anbetracht dessen, dass die gesamte Geschichte aber über einen Zeitraum von Wochen oder gar Monaten verteilt ist, ist diese zeitliche Unsicherheit unproblematisch. Keines der Ereingnisse basiert auf einem anderen Erzählstrang und am Schluss wird schließlich alles zusammengeführt und in einem Augenblick gesammelt, wenn sich die Helden schließlich in einem großen Rat (virtuell) begegnen und die Bösewichte ihren ersten großen Schlag ausführen und damit die Endphase ihres Projektes einläuten.

Dass mir die zeitliche Einordnung beim Lesen unmöglich aber auch unnötig erschien, liegt an der Struktur. Mr. Williams widmet jedes Kapitel einem Charakter oder einer Gruppe. Er agiert hierbei ähnlich den Point of View Charakteren, die George R. R Martin im Lied von Eis und Feuer bemüht, und doch anders. Die Sicht auf die Figuren in Otherland ist etwas distanzierter und gleichtzeitig doch persönlicher. So sehr ich Martins großes Werk liebe (und hoffe, dass „Winds of Winter“ endlich in den Regalen steht), fühlte ich mich doch keiner Figur in diesen Büchern so verbunden, wie den Menschen aus „Otherland“. Das gilt für die Helden, die noch gar nicht wissen, dass sie Helden sind, genauso wie den Bösewichten. Während Mr. Martin mich sehr dicht an die einzelnen Figuren heranführte, hält mich Mr. Williams auf Abstand, lässt mir mehr Überblick über das Ganze und schafft es genau so, dass ich mich der Person näher fühle. Selbst dem gewaltverliebten Attentäter der Bruderschaft. Nein, ich mag ihn nicht. Und doch dachte ich dieselben Dinge, die er dachte, fällte dieselben Entscheidungen.

Natürlich ist all das sehr subjektiv.

Im Gegensatz zu George Martin durchbricht Tad Williams die Struktur der auf eine Person oder Gruppe fokussierten Kapitel aber gelegentlich und führt verschieden Stränge der Geschichte zeitlich zusammen. Hierbei geschehen vor allem 2 Dinge: Das Erzähltempo wird kurz ein bisschen angezogen und es wird eine Art Höhepunkt geschaffen, ein Moment, in dem die Spannung kurz steigt und mich als Leser weiterzieht. Es sind Momente in denen die Handlung kumuliert wird, in denen der Status quo festgehalten wird, der sich durch die bisherigen Erzählungen ergeben hat.

Auch bei Otherland erweist sich Tad Williams als Meister der Strategie. Zwar scheint über die Story von „Stadt der goldenen Schatten“ hinweg etwas mehr zu passieren als als zum Beispiel in „Die Hexenholzkrone“, all die Ereignisse dienen aber doch vor allem dazu, die einzelnen Figuren an den Platz zu bewegen, an dem sie schließlich stehen müssen, um die Geschichte weiter erzählen zu können, um die Helden am Ende zusammen zu bringen, um andere Personen eliminieren zu können, um die Antagonisten zum Schlag ausholen zu lassen. Und selbst dieser erste große der Gralsbruderschaft sorgt vor allem dafür, dass eine Situation geschaffen wird, die die „Gemeinschaft des Ringes“ (um ein Bild zu benutzen, das eine Figur selbst bemüht, der Junge vergleicht die Zusammenkunft der Helden am Ende mit Elronds Rat aus dem Herrn der Ringe) auf ihren Weg geführt wird.

Tatsächlich ist der Vergleich mit Tolkiens Werk gar nicht so weit hergeholt. Wenn ich gerade nicht falsch gezählt habe, sind es auch hier 9 Gefährten und wie bei Tolkien gibt es auch bei dieser Gemeinschaft einen „Verräter“. So viel weiß der Leser. Wer der „Verräter“ ist, bleibt dabei offen.

Die Parallele zum Herrn der Ringe ist dabei nicht die einzige popkulturelle Anspielung. Tad Williams scheint sich dabei nicht einmal zu bemühen, die Anspielungen zu verstecken. Warum auch? Ob es Szenen auf dem Mars sind, die an Edgar Rice Burroughs‘ „John Carter“ erinnern, ob es das Onlinespiel „Mittland“ ist, in dem man einerseits gängige Fantasy-Rollenspiele erkennt, andererseits die üblichen Welten von Schwertern und Hexerei, die Robert E. Howard (Conan der Barbar, Kull der Eroberer) und Karl Edward Wagner (Das Buch Kane) beschrieben, alles findet in der virtuellen Welt statt. Es gibt keinen Grund, die Anspielungen zu verstecken, denn letztlich werden sich solche virtuellen Welten meist an dem orientieren, das wir kennen. Tatsächliche Spiele wie „World of Warcraft“, „Herr der Ringe online“, „Age of Conan“ oder auch „Star Wars – The Old Republic“ stellen dies unter Beweis. Tad Williams erwies sich hier gewissermaßen als Prophet. Der Unterschied zwischen unserer Realität und der Welt von „Otherland“ ist nur, dass die Immersion, das Eintauchen in die virtuelle Welt, in unserer Wirklichkeit nicht so groß ist wie in Tad Williams Buch. Wir haben bestenfalls VR-Brillen. Im Buch stehen viel feinere Möglichkeiten zur Verfügung, Geschirre mit taktilem Feedback zum Beispiel, sarkopaggleiche VR-Tanks, in denen man in einer Art Gel liegt, dessen Eigenschaften gezielt verändert werden können, ja sogar direkte neuronale Verbindungen. Aber das 21. Jahrhundert hat gerade erst begonnen. Bis zur Zeit von „Otherland“ kann sich noch einiges entwickeln.

Die Welt der Unterhaltung ist aber nicht das Einzige, bei dem sich Mr. Williams prophetisch erwies. Gleich in den ersten Kapiteln lief mir mehrfach ein Schauer über den Rücken.

Der erste Schauer lag noch gar nicht so sehr an Vorausahnungen. Es war eher eine Schilderung der Vergangenheit, die Geschichte des jungen Soldaten Paul Jonas, der in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges lag. Tad Williams schilderte dabei die Schrecken der Märzoffensive 1918 auf eine derart eindrucksvolle Weise, dass ich für einen Augenblick an eine Kriegsgeschichte dachte und der Gedanke, dass „Otherland“ Science Fiction ist, so gar nicht aufkam.

Der zweite Schauer überkam mich in den ersten bewussten Schilderungen des Netzes. „Die Stadt der Goldenen Schatten“ entstand 1996. Das Internet, wie wir es heute kennen, begann gerade, salonfähig zu werden und in die privaten Haushalte einzuziehen. An Dinge wie Facebook dachte noch niemand, wenngleich es rückblickend eine logische Entwicklung war, dass die sozialen Netzwerke entstanden.

Einer meiner größten Kritikpunkte an den sozialen Netzwerken ist immer die Art, wie sie genutzt werden, der Raum, den sie in unserem Leben einnehmen. Wir leben in einer Welt von Youtube-Stars (von denen ich im Regelfall gar nicht weiß, wer sie eigentlich sind) und Instagram-Influenzern. Facebook definiert uns. „Jeder ist doch bei Facebook!“ – wie oft habe ich ähnliches schon gehört? Manchmal kam es mir fast so vor, als existierte man gar nicht, war man nicht bei Facebook. Und warum werde Leute zu Stars, die bei Instagram Fotos von ihrem Mittagessen posten?

In „Otherland“ ist das Netzwerk ein Statussymbol. Vielmehr der Zugang. Eine Basisfunktionalität steht praktisch jedem zur Verfügung. Bestimmte Bereiche  können aber nur diejenigen betreten, die es sich leisten können. Um ein Online-Geschäft einigermaßen erfolgreich betreiben zu können, muss man im „Inner District“ vertreten sein. Und so manches dieser Geschäfte existiert dort an der Grenze seines Daseins. Wer reich ist, tritt in der virtuellen Welt in besonders ausgefallener Verkleidung auf, nur um zu zeigen, dass er oder sie etwas besonderes ist. In der virtuellen Welt nicht vertreten zu sein scheint zu heißen, dass man nicht existiert. Während sich Menschen früher über teure Kleidung, Häuser und Autos präsentierten, definiert sich der persönliche Status in „Otherland“ über die virtuelle Welt. Ganz wie wir es von Facebook & Co. kennen.

 

Alles in allem

Dass Tad Williams einer der herausragendsten Autoren unserer Zeit ist, ist sicherlich kein Geheimnis. Ich wage sogar die Behauptung, er sei der beste Schriftsteller, den wir auf dieser Welt haben. Seine bildreichen Welten laufen sogar den Werken Tolkiens den Rang ab.

Wer Science Fiction liebt, sollte „Otherland“ lesen. Wer es schon gelesen hat, sollte es noch einmal lesen. Wir leben in einer anderen Zeit als damals, als das Buch erschien, und ich glaube, „Die Stadt der Goldenen Schatten“ hinterlässt jetzt einen anderen Eindruck als 1996.

Auch wer Fantasy mag, sollte darüber nachdenken, „Otherland“ zu lesen. Gerade durch die virtuellen Welten verschwimmen die literarischen Grenzen zwischen SciFi und Fantasy oft.

Wem Fantasy nicht zusagt und SciFi zu abstrus ist, kann sich bei „Otherland“ immer noch auf eine spannende Geschichte freuen, die zwar in der Zukunft aber in einer durchaus realistischen Welt spielt.

Mit anderen Worten: Niemand hat eine Ausrede, „Otherland“ nicht zu lesen. Jeder wird bedient. SciFi, Fantasy, Verschwörungs-Thriller – das Buch macht es jedem Recht.

Tad Williams jongliert in einzigartiger Weise mit verschiedenen Genres, lässt Grenzen verschwimmen, manchmal verschwinden und untermauert meine Meinung, dass eine eindeutige Einordnung in Genres oft nicht möglich ist. Ist es Science Fiction oder ist die SciFi nur das Kleid, das der Thriller trägt? Oder ist selbst der Thrilleranteil nur ein Beiwerk für eine eine klassische Fantasyquest?

Versuchen Sie, die Fragen zu beantworten, dann verstehen Sie, was ich meine. Es gibt nicht die eine Antwort. Aber bevor Sie ihre Antwort suchen, lesen Sie „Otherland“ (noch einmal).

 

Story:5 out of 5 stars (5 / 5)
Stil:5 out of 5 stars (5 / 5)
Spaß:5 out of 5 stars (5 / 5)
Durchschnitt:5 out of 5 stars (5 / 5)

Eine andere Wertung kann ich nicht geben.

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