Frankenstein

Die Bühne ist nahezu dunkel. Eine Hand berührt eine Art Haut, etwas das eine Fruchtblase sein könnte. Licht blitzt auf, einen kurzen Augenblick nur wie ein Blitzschlag. Trommeln schlagen und ein menschliches Wesen kriecht aus der Blase.

Die Kreatur, ein nackter Mann, kriecht auf den Boden. Er versucht sich zu erheben, zu stehen, aber er versagt, fällt zurück auf den Untergrund, wieder und wieder und wieder… Und schließlich hat er Erfolg und rennt in kindlicher Freude umher.

Ein neuer blendender Lichtblitz erscheint und verursacht beinahe spürbare Schmerzen. Der nackte Mann auf der Bühne schreit in Agonie und ich selbst bin versucht zu rufen: „HALTET EIN! Stoppt diesen Schmerz! Nehmt dies Licht hinfort, es tut mir weh! Es verbrennt meine Augen!“Ein einsamer Mann auf der Bühne, der zu tun sucht, was für uns vollkommen natürlich ist, seine stöhnende Stimme, schlagende Trommeln – all das ließ mich spüren, was Victor Frankensteins Schöpfung (Ich wage nach diesem Abend nicht mehr, ihn „Kreatur“ oder „es“ zu nennen.) im Augenblick seiner „Geburt“ fühlen musste.

Ich war wieder im Kino, um Theater zu schauen. „Frankenstein“ war es diesmal, mit zwei der brilliantesten Schauspieler in den Hauptrollen: Jonny Lee Miller und Benedict Cumberbatch. Sherlock trifft Sherlock.

Ursprünglich wollte ich das Stück zweimal sehen und erst danach schreiben, wechseln doch Cumberbatch und Miller von Aufführung zu Aufführung die Rollen und während heute Cumberbatch die Schöpfung und Miller Frankenstein war, sehe ich sie nächste Woche in den vertauschten Rollen.

Doch nun sitze ich in der Bahn und schreibe in mein Notizbuch, damit nicht der kleinste Funke meiner Eindrücke verloren geht, bevor er aufgeschrieben ist.

Wieder Theater

Tatsächlich ist Frankenstein der Grund, weshalb ich „König Lear“ sah. Ich erfuhr irgendwann im Sommer von der Übertragung und als ich noch einmal nach die Datum des Spiels suchte, entdeckte ich Lear. Man könnte also sagen, „Frankenstein“ sei der Plan gewesen und „König Lear“ das „wieder“.

Älter zu werden scheint den Sinn für Kultur zu verschieben. Vielleicht weckte auch der Umstand, dass mein Sohn an der Schule „Darstellendes Spiel“ belegte, mein Interesse am Theater. Und dann waren da die beiden Sherlocks. Sowohl Benedict Cumberbatch als auch Jonny Lee Miller spielte auf fulminante Weise der Welt größten Detektiv. Wie würde sie sich wohl auf der Bühne schlagen?

Wenn ich an Sherlock Holmes im Film denke, kam mir meist der vollendete Gentleman in den Sinn, ruhig, immer Herr der Lage. Da ich die „Abenteuer des Sherlock Holmes“ gelesen habe, weiß ich, es ist anders. Holmes ist ein getriebener Charakter, ein Abhängiger zuerst von Drogen, dann vom Lösen von Rätseln als Ersatzdroge. Benedict Cumberbatch und Jonny Lee Miller zeigten diese Seite des Meisterdetektivs in „Sherlock“ bzw. „Elementary“. Sie konnten in „Frankenstein“ eigentlich nichts anderes als brilliant sein, dachte ich und wurde nicht enttäuscht.

Eine sehr wandelbare Bühne

Wie bei König Lear war die Bühne zunächst nahezu leer. Im Gegensatz zu Lear wurde die Bühne aber nicht im Minutentakt umgebaut, das Bild entstand Stück für Stück, immer um ein Detail ergänzt, bis der Handlungsort so wechselte, dass die Bühne komplett umgebaut werden musst.

Und sie war großartig gebaut. Eine Hütte sank von der Decke herab, ein großes Studierzimmer erschien von unterhalb der Bühne, Feuer und Nebel kamen aus dem Boden… Selbst die Hütte wurde mit Rauch und orange-gelbem Flackern „niedergebrannt“.

Die Akteure betraten und verließen die Bühne wieder durch Türen an der Rückseite und neben der Bühne. Ein hölzerner Steg wurde ausgelegt um den Genfer See anzudeuten, daneben ein wasserähnliches Glitzern. Eine weiße Projektion erzeugte am Ende einen Eisberg, als Frankenstein seine Schöpfung zum Nordpol jagte.

In kurzen Worte: Es war die beste Bühne, die ich je sah. Zugegeben, ich sah nicht viele Bühnen, mit den Übertragungen aus der New Yorker Met sind es aber schon ein paar.

Und dann war da das Schauspiel

Ich denke, die meisten Menschen kennen Frankenstein vor allem aus den alten Horrorfilmen. Boris Karloff, erinnern Sie sich? Ich habe die Filme nie gesehen aber ich kenne die Verfilmung von Kenneth Brannagh mit Robert de Niro in Rolle des Geschöpfes. Ich hatte so eine Ahnung, dass es sich nicht um ein Horrorstück handeln würde und behielt damit recht.

Es mag sogar sein, dass das Theaterstück mehr von der Geschichte zeigte als es Brannagh mit seinem Film gelang, weil nämlich das Schauspiel nicht mit Frankenstein begann sondern mit seinem Geschöpf, seiner Geburt, seiner Ausbildung, wie er nicht nur lernte zu leben und zu schreiben sondern auch was Hass und Verrat sind.

Benedict Cumberbatch spielte von Beginn an furios. Sein Zucken und Zappeln nach der Geburt, sein Kampf aufzustehen, zu sprechen, Körpersprache und Mimik können einfach nicht anders als brilliant genannt werden. So gerne ich ihn im Film sehe, wage ich doch die Behauptung, Cumberbatch sei für die Bühne geboren. Die Bandbreite seiner Emotionen angefangen bei Angst hin zu Unglauben, Zorn, Hass, Traurigkeit sind nicht weniger als unglaublich.

Jonny Lee Miller auf der anderen Seite war der verrückte Wissenschaftler, wie ein verrückter Wissenschaftler sein soll. Ein manisch Getriebener, der fragte, was er tun kann, was die Menschheit zu tun in der Lage wäre, aber nicht, ob er es tun sollte, und hinterher, als er die Folgen seines Handelns sah, zu tiefst bereute und versuchte, seinen Fehler zu beseitigen und seine Schöpfung zu töten. Obgleich jener Teil der Geschichte im Stück ausgelassen wurde, ließ Miller das Publikum doch wenigstens ahnen, wo die Motive seines Handelns lagen – der Verlust seiner geliebten Mutter, der ihn zu dem Wunsch trieb, den Tod zu besiegen.

Als ich vor so vielen Jahren Brannaghs Film sah, sah ich kein Monster sondern einen Mann (einen künstlichen, zugegeben), die nichts wollte als zu leben und akzeptiert zu werden. Die Brillianz dieses Theaterstückes aber zeigt noch viel mehr.

Benedict Cumberbatch und Jonny Lee Miller lehrten eine exzellente Lektion über Ursache und Wirkung. Was immer wir tun, hat Auswirkungen. Sie würden nicht (hoffe ich für Ihre unsterbliche Seele) ein Kind in die Welt setzen und es dann verlassen. Sie sollten nicht (so Sie es könnten) Leben schaffen und dann Ihre Schöpfung verlassen.

Als Frankenstein seine Schöpfung sah, war er angeekelt und hatte Angst. Das Geschöpf musste allein klarkommen, ohne Vater, ohne Mutter. Einsam. Er kannte das Konzept der Einsamkeit zu diesem Zeitpunkt noch nicht aber er lernte schnell und die ersten Dinge, die er lernte waren unerwünscht zu sein und gehasst zu werden, weil er anders war. Und doch war er eigentlich ein roher Diamant.

Unerwünscht, gehasst, gejagt entwickelte der Mann seinen eigenen Hass. Er liebt ganz offensichtlich den blinden, alten Mann, der ihm Bildung schenkte. Als des alten Mannes Sohn und Schwiegertochter das Geschöpf aber aus der Hütte jagten, nicht auf den alten Mann hörten, erwachte der Geist der Rache in ihm und er tötete alle drei, den alten Mann, den Sohn und die Schwiegertochter, indem er die Hütte niederbrannte. Als Frankenstein sein Wort brach, eine Braut für das Geschöpf zu erschaffen, die Braut tötete, wuchs der Rachedurst des Geschöpfes und endete im Tod Victor Frankensteins frisch vermählter Ehefrau.

Kein Frankenstein-Film transportierte je eine so große Message wie dieses Stück:

  1. Wer anders ist, ist nicht weniger wert. Und er ist nicht wert, gehasst zu werden. Also liebe das Andere so wie das Gleiche!
  2. Hass gebiert immer wieder Hass. Wenn Du nicht gehasst werden willst, begegne anderen nicht mit Hass!
  3. Denke immer nach, bevor Du handelst! Gleich wie interessant es ist, was Du tun kannst, frage Dich immer, ob Du es tun solltest! Dein Handeln wird Konsequenzen für Dich und für andere haben.

Ich wünschte, gewisse Menschen hätten das Stück gesehen. Aber ich will jetzt nicht politisch werden.

Etwas anderes aber scheint mir keine so gute Idee: die Untertitel. Die Untertitel waren ablenken und vollkommen unnötig, denn sie waren wie das Stück auf Englisch und alle Darsteller sprachen unglaublich deutlich. Es hat keinen Nutzen, einem englischsprachigen Stück englische Untertitel zu geben. Aber diese Kleinigkeit zählt nicht.

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