Das Reich der Grasländer

George R. R. Martin lehrte mich eines: Niemand ist vor dem Tode sicher. Bisher war ich unschlüssig, ob Das Lied von Eis und Feuer eine Einzeltat war. Tad Williams bewies, dass es stimmt. Niemand ist davor gefeit, den Tod zu finden. Menschen nicht, Elfen nicht. Doch im Gegensatz zu Herrn Martin lässt Herr Williams dem Leser Hoffnung. Vielleicht ist es eine trügerische Hoffnung aber sie ist da. Zumindest bis die Kinder des Navigators die Geschichte abschließen.

Es fängt da an…

…wo die Hexenholzkrone endet. Nahtlos und mit einer Offenbarung. Verrat! Gut, wir wissen von dem Verrat. Er trat am Ende des Vorbandes ans Licht. Doch wie tief reicht der Verrat wirklich?

Die Königin ist auf diplomatischer Mission, der Prinz vermisst, die Nornen schmieden weiterhin finstere Pläne und machen Fortschritte in ihrer Umsetzung und die Grasländer um ihren neuen Shan ziehen in den Krieg gegen das Königreich. Das ist die ganz knappe und sehr grobe Zusammenfassung der Geschichte.

Natürlich passiert mehr. Ränke werden geschmiedet, die die Königin in einen wahren Hexenkessel ziehen und ein neues Volk taucht auf. War schon immer da, die meisten wussten nur nicht, wie groß und vielfältig dieses Volk ist. Und zwischendurch wird ein wenig aus der Geschichte der Sithi und der Nornen erzählt, Hintergrundwissen vermittelt, das noch nicht jetzt aber mit Sicherheit im dritten Teil wichtig zu werden vermag.

DasBuch…

…kann nicht für sich alleine gelesen werden. Beim zweiten Teil einer Trilogie ist das zu erwarten.

Apropos Trilogien: Ist Ihnen schon aufgefallen, dass in einer Trilogie oft am Anfang eine Menge geschieht, um Figuren und Schauplätze einzuführen, in der Mitte das Tempe gedrosselt wird, um die Dinge schlimmer werden zu lassen (am dunkelsten ist es immer vor dem Morgen) und die Figuren auf dem Schachbrett der Geschichte in Stellung zu bringen und am Ende alles in einem fulminanten Finale gipfelt, nach dem die Welt wieder in Ordnung ist?

Der letzte König von Osten Ard ist anders. Läuft im ersten Teil die Geschichte sanft an und nimmt allmählich Fahrt auf, fängt das Reich der Grasländer das Tempo auf und zieht es seinerseits weiter an. Es gibt zwischendurch ein paar Ruhepausen, Momente zum Atem holen, die die Geschichte nicht eigentlich voran- aber Figuren zu dem Ort bringen, an dem sie gebraucht werden. Diese Augenblicke sind für den Leser aus zwei Gründen wichtig:

  1. Nur wenige, glaube ich, sind in der Lage, einen Marathon in vollem Tempo durchzulaufen.
  2. Bestimmte Charaktere, die in der Vergangenheit getrennt werden, müssen irgendwie wieder zusammengebracht werden. Ob sie sich wirklich wieder treffen, ist noch offen. Niemand ist vor dem Tod sicher und es mag sein, dass die getrennten sich Liebenden zwar auf fünf Meter zusammengebracht werden, sich aber wieder verlieren, bevor sie sich sahen, und der eine die andere am Ende nur tot wiederfindet. Aber der Romantiker in mir erhofft sich aber das Wiedersehen und dafür muss einer zum Nächsten gelangen.

Abseits dieser Intermezzi aber drängt die Geschichte weiter und weiter, wird schneller, ohne aber hektisch zu werden. Selbst im Schlussspurt bleibt die Story übersichtlich. Während sich in Osten Ard das Chaos ausbreitet, hatte ich als Leser nie das Gefühl, dass mich dieses Chaos so überfordert wie den armen Simon.

Die Spannung steigt

Bei einer sich fortsetzenden Buchreihe ist es nicht nur wichtig, den Fortgang der Geschichte an sich zu beschreiben, man muss sowohl Story als auch Figuren entwickeln und sich entwickeln lassen. Ich las schon zu viele Reihen, in denen sich wenig entwickelte, vor allem nicht an den Charakteren. Die späteren Werke R. A. Salvatores sind so ein Negativbeispiel. Macht Tad Williams das besser? Und wie!

Da ist Unver, der neue Shan der Thritinge, die Reiter aus dem Grasland. War er im ersten Teil noch ein Außenseiter, überlebt er einem Messias gleich das Martyrium der „Prüfungen“, die seinen (vom ihm selbst nicht gewollten) Status als Anführer aller Grasländer begründen sollen. Das jedenfalls ist die offizielle Version für das gemeine Volk.

Da ist Pasevalle, der Lord Kanzler. Seine Rolle ist im „Reich der Grasländer“ verhältnismäßig klein und doch auf ihre Weise das gesamte Buch umspannend und sein Wirken wird unerwartet an Orten sichtbar, an denen man ganz andere Personen im Visier hat.

Und schließlich ist da der für mich interessanteste Charakter: Viyeki, ein hochgestellter Norne und somit potentiell einer der Bösen. Aber schon in der „Hexenholzkrone“ zeigte Viyeki sich als untypischer Angehöriger seines Volkes und diesmal scheint er sogar eine Art Oskar Schindler zu sein, der nicht mit ansehen will, dass Alte, Frauen und Kinder getötet werden und sie kraft seines Amtes und Status als für die Aufgabe, die er für die Nornenkönigin zu erledigen hat, wichtige Arbeitskräfte deklariert.

Tad Williams erzählt hier viele verschiedene und scheinbar unabhängige Geschichten, die vor allem dadurch zusammengehalten werden, dass sie letztlich auf ein gemeinsames Ziel zusteuern. Dinge geschehen hier, Dinge geschehen dort und Details wie ein Name oder ein Gegenstand oder das Auftauchen von Nornenkriegern schaffen eine Verbindung. Auf diese Weise gelingt es dem Autor auf meisterliche Weise, Einzelschicksale zu einer weltumfassenden politischen Lage zusammenzufassen und eine globale Bedrohung zu kreieren, die einerseits spürbar ist, anderseits zumindest für mich als Leser nicht wirklich genau zu benennen ist. Es gibt mehr als nur zwei Parteien, die sich letztlich im großen Konflikt gegenüberzustehen scheinen. Und nicht bei allen Parteien weiß man, ob sie Gegner oder Verbündete sein werden.

Genau hier ist für mich auch der große Unterschied zu den Werken Tolkiens und Martins. Beim Lied von Eis und Feuer läuft es am Ende darauf hinaus, die weißen Wanderer aufzuhalten. Alle anderen Konflikte sind eher Kleinkram. Bei Tolkien stehen Menschen, Elben, Zwerge und Halblinge gegen Sauron und die Orks. Selbst bei der Schlacht der fünf Heere im Kleinen Hobbit sind die Linien stets einigermaßen klar erkennbar. Bei Tad Williams hingegen sind selbst die „Lichtelfen“ (um eine Analogie zur üblichen Fantasy zu schaffen) ein eher ambivalentes Volk. Und das Auftauchen gewisser anderer Kreaturen zusammen mit einer Bemerkung eines Nornen über verschiedene nichtmenschliche Sklaven stellt die Frage in den Raum, ob die dunklen Elfen am Ende tatsächlich die Gegner oder vielleicht unfreiwillige Verbündete werden. „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“, sagte einst ein arabischer Prinz. Es ist nicht auszuschließen, ja sogar recht wahrscheinlich, dass im Folgeband nach genau diesem Motto Bündnisse geschlossen werden.

Eine gute Reihe erkennt man vor allem an einer Tatsache: Am Ende eines Bandes hat man einen Status quo, aber wo die Geschichte endet, ist alles andere als klar. Tad Williams lässt eine Menge Raum für Spekulationen. Er erschafft bereits hier im zweiten Band einen potentiellen aber widerwilligen Verbündeten für die Menschen, sät aber gleichzeitig Zweifel daran, wer am Ende der wahre Feind ist. Genau das macht das Warten auf „Die Kinder des Navigator“ für mich so aufregend. Ich will die Auflösung des Ganzen wissen. Auf welcher Seite stehen diese Kinder? Was passiert mit Morgan? Warum „der letzte König von Osten Ard“? Geht die Welt etwa doch unter?

Fabelhaft Details

Vielleicht sollte ich den letzten König von Osten Ard bei Gelegenheit noch einmal in der deutschen Übersetzung lesen. Natürlich las ich den zweiten Band auf Englisch. Schon deshalb, weil ich nicht warten wollte. Außerdem bilde ich mir ein, im Original am besten des Autoren Gedanken erhaschen zu können, dass in einer Übersetzung immer etwas verloren geht.

Genau dieses Gefühl hatte ich beim „Reich der Grasländer“ einmal mehr, das Gefühl, dass Übersetzungen immer viel zu ungenau sind, weil ein bestimmtes Wort in unterschiedlichen Bedeutungen unterschiedlich übersetzt werden kann.

Ein Beispiel hierfür findet man bei Star Wars. In der deutschen Übersetzung ist immer vom Imperium die Rede, obwohl diese Übersetzung des Wortes „Empire“ nicht ganz korrekt ist. Die korrektere Übersetzung wäre eigentlich „Reich“. Beim deutschen Titel dieses Buches ist die Bedeutungsunterschied schon einmal beachtet worden. Es ist vom Reich, nicht vom Imperium der Grasländer die Rede.

Genau diesen Unterschied findet man auch im (englischen) Text wieder. So ist dort, wenn es um die Vergangenheit Nabbans geht, nicht vom „Nabbanai Empire“ – vom Nabbanischen Reich – die Rede sondern tatsächlich vom Imperium.

Warum ist das so wichtig für mich? Weil genau eine solche wohlüberlegte Wahl der Worte mehr über die Geschichte eines Volkes erzählt als es 200 Seiten im Buch könnten. Dieses eine Wort sagt – ergänzt durch ans Lateinische angelehnte Namen – dass Nabban in früherer Zeit mit dem antiken Rom vergleichbar war. In Anbetracht der Macht und des Status einzelner Familien und Häuser würde ich dabei auf die Zeit der Römischen Republik tippen, nicht auf das Römische (Kaiser-)Reich. Dies wiederum ermöglicht es mir, mir ein Bild von Nabban zu machen.

Aber nicht alle fabelhaften Details liegen in der Wortwahl des Meisters verborgen. Wie schon im Vorband ergeht sich Tad Williams nicht in kleinteiligen Beschreibung der Landschaft. Solche Beschreibungen gehen nur dort ins Detail, wo es wichtig ist, um ein spezifisches Bild vor dem inneren Auge des Leser entstehen zu lassen.

Manche der fabelhaften Details sind nicht einmal hilfreich sondern führen zu eben jenen Fragen, die ich oben in Bezug auf die Fortsetzung stellte, führen zu eben jenen möglichen Spekulationen.

Bisher ging ich nämlich davon aus, dass es genau zwei Völker im „Garten“ gab. Eigentlich sogar nur eines, das sich später in Sithi und Nornen teilte, in Zida’ya und Hikeda’ya. Nunmehr weiß ich aus Erzählungen im Buch, dass es nicht nur ein weiteres Volk, die Tinukeda’ya, gab sondern auch dass sie in mannigfaltiger Gestalt existieren. Und genau das lässt mich an der einen Stelle innehalten und „Uuups!“ sagen und an anderer Stelle innerlich vor Schreck erbleichen und „Heilige Scheiße!“ flüstern.

Um eine solche Reaktion zu provozieren, bedarf es einer Sache: Immersion

Ich bin gerade unsicher, ob man das Wort Immersion in diesem Zusammenhang tatsächlich benutzt aber es trifft den Kern. Eintauchen. Tad Williams lässt mich eintauchen in die Welt von Osten Ard. Den Leser mitten in die Welt des Buches zu holen, ist die höchste Kunst des Schreibens. Tolkien hat fast immer geschafft, mich seine Geschichten erleben zu lassen, George Martin meistens. Tad Williams bisher immer.

Story:5 out of 5 stars (5 / 5)
Schreibstil:5 out of 5 stars (5 / 5)
Lesespaß:5 out of 5 stars (5 / 5)
Durchschnitt:5 out of 5 stars (5 / 5)
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