Vor einer kleinen Weile (war es 2016 oder 2017?) machte mir meine Tochter ein Geburtstagsgeschenk. Bis hierher ist noch nichts ungewöhnlich, aber irgendwie führt dieses Geschenk zu dieser Rezension. Das Geschenk war ein Buch, das den Beginn einer ganzen Reihe markiert: „Die Flüsse von London“ von Ben Aaronovitch
Beschrieben als „Harry Potter für Erwachsene“ weckte das Buch schnell meine Neugierde. Was hatte ich in der Hand? Eine Geschichte über Zauberer und Hexe nur düsterer und dichter als Harry Potter, mit mehr finsteren Taten und Toten überall? Oder einfach nur eine Geschichte, in der Erwachsene statt Kinder das Zaubern lernen?
Zu meiner angenehmen Überraschung entpuppte sich das Buch als interessanter Mix aus Urban Fantasy und Krimi, ein gutes Beispiel dafür, dass Genres problematisch sind. Obwohl es Magie gibt, Zauberer und Geister und Göttinnen und Götter, erscheint „Die Flüsse von London“ unter der Oberfläche als gute altmodische Detektivgeschichte mit dem Unterschied, dass ein Teil der Detektivarbeit eben mit Magie erledigt wird. Dieser Mix und der leichte Erzählstil weckten den Wunsch in mir, die Reihe weiterzulesen.
Und nun, da ich beschlossen haben, mir mehr Zeit zum Lesen zu nehmen, widmete ich mich dem dritten Teil: „Ein Wispern unter Baker Street“
Absolut eine Fortsetzung
Seid gewarnt, meine Freunde! Ich muss mit einer Warnung beginnen, denn „Ein Wispern unter Baker Street“ ist kein Buch für Menschen, die… Nun… Für Menschen, die die vorigen Bücher (die oben erwähnten „Flüsse von London“ und „Schwarzer Mond über Soho“) nicht kennen.
Obschon „Ein Wispern unter Baker Street“ eine eigene in sich geschlossene Geschichte erzählt, ist das Buch absolut eine reine Fortsetzung. Fangt nicht mit diesem Buch an! Euch werden Dinge fehlen.
Die ersten beiden Bücher und die Dinge, die dort erzählt werden, bilden die Grundlage für den dritten Band. Man kann noch damit leben, dass die Charaktere in den Vorbänden eingeführt wurden ohne diese gelesen zu haben. Zumindest funktioniert das mit Peter Grant, einem jungen Police Constable der in einer Spezialeinheit Metropolitan Police, eine Art „X-Akten“-Abteilung, das „Folly“ genannt, tätig ist. Er selbst erzählt die Geschichte und vermittelt alle Kenntnisse über sich selbst, die für das grobe Verständnis wichtig sind.
Es funktioniert vielleicht sogar mit Peters Boss, Detective Chief Inspector Nightingale. Sein Anteil an der Geschichte ist nicht allzu groß. Aber es gibt viele Kleinigkeiten, deren Fehlen dem Verständnis etwas abträglich sein dürften. Wer zum Kuckuck ist Tyburn und warum (sofern man mit der Topographie Londons vertraut ist) trägt sie den Namen eines Flusses? Warum trägt Lesley May eine Maske? Und wer ist dieser Gesichtslose Mann, der immer wieder erwähnt wird?
Rätsel über Rätsel für denjenigen, der die Vorbände nicht kennt. Natürlich könnte man dass Buch auf dieselbe Weise angehen, wie ich es mit Tad Williams‘ Osten Ard Zyklus tat und mit der Fortsetzung beginnen und die vorhergehenden Bücher als Prequel lesen. Nur kann ich das im Fall der „Flüssen von London“-Reihe nicht empfehlen. Es wäre, als würde man Harry Potter mit dem „Feuerkelch“ beginnen. Es fehlen Basisinformationen.
In der Reihenfolge der Ereignisse gelesen, ist „Ein Wispern unter Baker Street“ aber eine perfekte Fortsetzung. Das Buch erzählt eine eigene Geschichte und greift als Side Plot den Faden auf, der in „Schwarzer Mond über Soho“ ausgelegt wurde. Nun, zumindest wird jener Faden erwähnt, denn mit der eigentlichen Story hat er nicht viel zu tun.
Über die Story – ohne allzu viele Spoiler
Es ist die Zeit vor Weihnachten, als Police Constable Peter Grant, seit Anfang des Jahres Zauberlehrling, zum Schauplatz des Mordes an James Gallagher, Kunststudent und Sohn eines U.S.-Amerikanischen Senators gerufen wird. Obwohl der Tote auf den ersten Blick als Opfer eines ganz normalen Mordes erscheint, findet Peter seltsame Überreste von Magie an der Mordwaffe – Vestigia, wie die Zauber (Verzeihung, die Praktizierenden!) die Spuren, die Magie hinterlässt, nennen.
Nach den Ereignissen des zweiten Bandes arrangierte Peter, dass seine Kollegin Lesley (inoffiziell) im „Folly“ in der Nutzung von Magie unterrichtet wird.
Während der Untersuchung der Umstände, die zu Gallaghers Tod führten, befragen Lesley und Peter Verdächtige, lernen ein bisschen (oder lehren den Leser ein bisschen) über die Geschichte Londons (ob wahrhaftig oder fiktiv), finden ein altes Volk, das unterhalb Londons lebt und verfolgen als Nebenhandlung den Gesichtslosen Mann, der in „Schwarzer Mond über Soho“ eingeführt wurde.
Und natürlich wird der Fall pünktlich vor Weihnachten gelöst. Genauso wie es sein muss.
„Ein Wispern unter Baker Street“ ist nicht unbedingt Ben Aaronovitchs Meisterwerk. Um ehrlich zu sein ist es, lässt man die Magie, die kleinen Witze und die Anspielungen auf die Popkultur beiseite, ein Krimi wie so viele andere auch. Es ist gut aber nicht herausragend. Manchmal dachte ich sogar, ich würde „Inspektor Barnaby“ mit einer Prise Magie lesen. Andererseits ist das Buch vielleicht auch nur ein Porträt ganz normaler Polizeiarbeit . Mit Magie in der Geschichte erwartete ich allerdings (vielleicht fälschlich) etwas mehr Action, magische Kämpfe im Stil von Harry Potter (oder vielleicht Gandalf).
Bei einer Buchreihe kann es aber gut sein, das Tempo ein bisschen verlangsamen, dem Protagonisten etwas Normalität zu geben. Sofern bei einem Zauberlehrling irgendetwas normal ist.
Trotzdem ließ Mr. Aaronovitch ein paar Dinge liegen. Das Tempo aus der Geschichte herauszunehmen, wäre eine gute Gelegenheit, die Charaktere zu entwickeln. Trainierte Peter in den ersten zwei Büchern hart, um seine magischen Fähigkeiten auszubilden, wurde im dritte Teil nichts über seine Versuche und Fehlschläge erzählt. Beinahe. Peter erzählte eine Anekdote darüber, wie er einen Abwehrzauber zu erlernen versuchte.
Mit Lesley im Folly gäbe es eine gute Möglichkeit, die Beziehung zwischen ihr und Peter zu entwickeln – egal in welche Richtung. Mr. Aaronovitch verpasste die Chance.
Die Suche nach dem Gesichtslosen Mann – auch als Side Plot – hätte größer ausfallen können. Sie hätte sogar eine Verbindung zum Fall haben können. Können, nicht müssen. Wenn aber der Gesichtslose Mann in der Zukunft eine größere Rolle spielen sollte (was ich wissen werden, wenn ich die nächste Bücher gelesen habe), wäre der Gesichtslose Mann mehr als nur zwei oder drei Erwähnungen wert gewesen. Mr. Aaronovitch macht hierbei in meinen Augen auch den Fehler, die Suche nach dem Gesichtslosen am Anfang in größerem Umfang zu thematisieren und dann bis zum Epilog vollständig fallen zu lassen.
Und das Ende, die Auflösung… Tja… Es war ein bisschen wie in den alten Detektivgeschichten wie „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ oder Agatha Christies „Hercules Poirot“. Oder „Inspektor Barnaby“. Peter spricht mit Leuten von unterhalb der Stadt, schickt dann Lesley und eine „beobachtende“ FBI-Agentin aus dem Raum und findet 20 Minuten später den Mörder (ohne dass erklärt wird, wie er auf den Täter kam), der zum Verhör gebracht und von Peter befragt wird – das ist ein bisschen dünn. Ein bisschen wie „Inspektor Barna…“ – ok, das war jetzt einmal zu oft.
Der beste Grund, das Buch trotzdem zu lesen
Es gibt trotz allem einen guten Grund, das Buch zu lesen: Es macht Spaß.
Wann immer ich eine Geschichte im Narrativ der ersten Person lese, denke ich an einen alten Film Noire. Wann immer der Protagonist eine Geschichte als „Ich“ erzählt, kommt mir Philip Marlowe in den Sinn. Oder Spenser. Mike Hammer. Thomas Magnum.
Peter Grant ist kein „hardboild Detective“. Er ist eigentlich alles andere als perfekt. So wie wir alle. Trotzdem hatte ich beim Lesen die unbekümmerte Stimme von Magnum (bzw. seines deutschen Synchronsprechers Norbert Langer) im Kopf.
Ein anderer Teil des Lesespaßes sind die Anspielungen auf unsere Popkultur. Wenn Peter unter die Erde ging und dabei an ein Dungeons & Dragons-Spiel dachte, wenn er sich daran erinnerte, wie er den Abwehrzauber mit einem automatisierten Paintballgewehr übte, dessen Zielgenauigkeit den Schießkünsten eines Sturmtrupplers entsprach, konnte ich nicht anders als lächelnd zu nicken. Es ist wahr, es ist absolut ungefährlich, einem imperialen Sturmtruppler zu begegnen. Wenn er auf dich schießt, trifft er alles außer dir selbst. Nur wenn man einfach dabei steht, sollte man vorsichtig sein. Man könnte als Kollateralschaden enden.
Ja, ich vermisste die Spannung der ersten beiden Bücher. Aber ich würde „Ein Wispern unter Baker Street“ nicht vermissen wollen. Wenn die nächsten Bücher genauso von den Vorgängern abhängen wie der dritte Band der Reihe, mag es sinnvoll sein, dieses Buch gelesen zu haben.
Ich empfehle das Buch weiter, aber ich tue es nicht mit vollem Herzen sondern als Teil einer Reihe. So spaßig und schnell das Buch zu lesen ist, nimmt es doch Chancen, die Charaktere und die Geschichte im Ganzen zu entwickeln, nicht wahr. Aber es ist klar eine Brücke zu den Ereignissen, die noch kommen. Oder zu den Ereignissen, die ich noch lesen muss.
Spaß: | (4,0 / 5) |
Schreibstil: | (4,0 / 5) |
Spannung: | (3,0 / 5) |
Durchschnitt: | (3,7 / 5) |
P.S. Manchmal wundere ich mich ein wenig über die Übersetzungen der Titel. Die Baker Street aus dem Buchtitel spielt nämlich außer als Fundort der Leiche gar keine Rolle. Das Volk, das unter London wispert, lebt schlicht im Untergrund. Warum also übersetzt man „Whisper Under Ground“ (so der englische Titel) nicht einfach mit „Ein Wispern im Untergrund“? Das ist wohl eines der Mysterien, die mir stets verschlossen bleiben.