Tarja, Annette oder Floor?

Es war irgendwann in den 1990er, als ich beim Zappen durch das abendliche Fernsehprogramm bei MTV hängen blieb. Diesen Sender zu sehen war für mich schon immer eher ungewöhnlich aber diesmal hörte ich harte Gitarrenriffs und eine engelsgleiche Stimme. Das war der Moment, in dem ich ein großer Fan einer der (meiner Meinung nach) großartigsten Power-Metal-Bands der Welt wurde: NIGHTWISH

Jetzt schreiben wir das Jahr 2018. Etwas mehr als zwei Dekaden gingen ins Land, seit der kleine Metal Head in mir Tarja Turunens Stimme hörte und sich in sie verliebte. In die Stimme, nicht in Tarja. Zwei Dekaden, in denen ich älter wurde. Die Welt um uns herum veränderte sich und die Band auch. Und so benannte Nightwish dann ihre Tour: DECADES – Dekaden

Ein unfairer Vergleich

Was ich gleich machen werde, ist etwas unfair. Aus zwei Gründen. Nightwish wechselte inzwischen zweimal die Sängerin und wann immer eine Band die Stimme auswechselt, liegt es in der Natur der Dinge, diese Stimmen zu vergleichen. Diese Vergleiche sind oft nicht fair denn nur selten kann eine neue Stimme subjetiv an die Stimme heranreichen, mit der man selbst „aufwuchs“. Und im Fall von Nightwish legte Tarja Turunen, das eine und einzige Original, die Messlatte fast unerreichbar hoch.

Trotzdem werde ich die drei Sängerinnen vergleichen, denn in diesem Vergleich liegt das Geheimnis dessen, was ich auf Nightwishs DECADES-Tour-Konzert in Berlin erlebte. Ich werde Tarja Turunen mit Anette Olzon und Floor Jansen vergleichen und ich tue dies ohne jede Wertung.

Natürlich war jeder Wechseln der Sängerin ein tiefer Einschnitt. Als Nightwish die Trennung von Tarja bekannt gab, erschien es mir das Ende der Band. Wer sollte Tarja ersetzen?

Tatsächlich war Anette Olzon für mich kein Ersatz für Tarja. Mit ihr war Nightwish eine völlig neue Band. Anette hat fraglos eine sehr schöne Stimme aber sie hat nicht den Umfang, den Tarjas Stimme hat. Beide vergleichend sagte ich immer und sage noch, dass Tarja die bei weitem schönere Stimme hat, Anette aber die bei weiterem einfacher zu hörende.

Tarjas Songs waren musikalisch immer recht komplex und wurden über die Jahre noch komplexer. Als Anette zur Band kam, änderte sich die Musik komplett. Grundsätzlich blieb sie dieselbe, Symphonic Power Metal. Aber die Arrangements wurde etwas einfacher und dafür kraftvoller.

Und dann kam Floor Jansen, vormals die Stimme der niederländischen Power-Metal-Formation After Forever. Schon wieder eine neue Stimme? Was wird das diesmal? Zumindest hatte Floor ihre eigenen Erfahrungen in diesem Genre. Es schien verheißungsvoll.

Wenn Tarja nun die schönere und Anette die leichter anzuhörende Stimme hatte, wo steht Floor? Ich behaupte irgendwo dazwischen. Floors Stimme klingt „klassischer“ als Anettes hat aber nicht den Umfang und das Volumen von Tarja.

Als ich in das letzte Nightwish-Album reinhörte, war ich nicht überzeugt, die Platte zu kaufen. Ich war sogar ein bisschen enttäuscht. Es war nichts neues, war nicht Anettes kraftvolle Musik, nicht Tarjas voluminöser Gesang, nichts wirklich eigenes. „Endless Forms Most Beautiful“ fing mich nicht ein. Trotzdem hielt es mich nicht davon ab, Nightwish noch einmal live zu erleben.

Und jetzt kommt’s

Wenn mich, könntet ihr fragen, Nightwishs erstes Album mit Floor Jansens Stimme nicht überzeugte, warum wollte ich mir dann das Konzert antun? Gab es einen Unterschied? War es das wert?

Es war es wert. Ich sah Nightwish im Jahr 2012 auf ihrer „Imaginaerum“-Tour. Oder war 2013? Ich bin nicht mehr ganz sicher. „Imaginaerum“ war das letzte Album mit Anette Olzon (was ich zu jenem Zeitpunkt natürlich noch nicht wusste und erwartete) und obwohl ich immer noch den alten Tagen mit Tarja nachhing – man bekommt die erste Stimme einer Band nicht aus dem Sinn – musste ich sie einfach sehen. Und so hatten meine Liebste und ich einen wundervollen Konzertabend mit einer großartigen Show.

Selbst wenn dich ein Album nicht einfängt, live ist es immer anders. Also kaufte ich zwei Tickets, als ich erfuhr, dass Nightwish nach Berlin kommen.

Immer noch ohne Wertung muss ich sagen, dass Tarjas Stimme unerreicht ist. Weder Anette noch Floor kommen an sie ran. Das DECADES-Konzert aber war eine Art Zeitreise. Es ging komplett um die alten Songs.

So seltsam es klingen mag, obwohl Floors Stimme nicht Tarjas Umfang und Volumen hat, machte sie einen nahezu perfekten Job. Tarjas alte Lieder zu hören funktionierte genauso gut wie jene, die im Original von Anette Olzon gesungen wurden. Wenn Floor Zeit zum Singen hatte, Zeit hatte, jede Note bis zu ihrem Ende zu singen, hatte sie eine Stimme, die vielleicht nicht opernhaft war aber doch nach Musical klang. Nur wenn sie dann mehr Gas geben musste, fehlten ihr Tarjas Kraft und Volumen. Es schien ihr schwer zu fallen, zwischen der klassischen und der Metalstimme umzuschalten. Sang sie aber einen Olzon-Song, hatte Floor the Power, the mich auf „Dark Passion Play“ und „Imaginaerum“ so fasziniert hatte.

Ich halte es für schwierig, zwei völlig verschiedene Stimmen zu ersetzen und ihre jeweiligen völlig verschiedenen Stile zu singen. Floor Jansen aber, sich irgendwo zwischen Tarja und Anette aufhaltend, schaffte es und brachte noch etwas eigenes hinein.

Aber ein Konzert ist nicht nur Musik. Es ist die musikalische Performance der Menschen auf der Bühne, ebenso aber die Bühne selbst.

Ein schlechtes Beispiel für ein Konzert gaben Manowar 2007. Drei Männer standen auf einer großen, leeren Bühne. Da ich keine Referenz hatte, war die Musik für mich ok, aber es war keine große Show. Wenn es überhaupt eine Show war…

Nightwish „Imaginaerum“-Konzert war eine großartige Show. Und DECADES packte noch eine Schippe drauf. Als das Licht in der Halle ausging, wurde ein Bild an den Hintergrund der Bühne projiziert. So weit, so normal. Ziemlich jede Band macht sowas heutzutage. Der Unterschied sind die Bilder an sich in ihrer Lebendigkeit, Phantasien passend zu den Songs. Der Unterschied war die Art, wie die Bilder projiziert wurden, die gesamte Bühne so einschließend, dass die Drums teilweise in der Luft zu schweben schienen.

Wenn ich von einer Zeitreise sprach, war es nicht nur wegen der Lieder. Die gesamte Show war eine Reise durch Zeit und Raum, die mich zurück in frühere Zeiten und weit weg zu anderen Orten brachte. Und deshalb will ich Nightwish für diesen besonderen Abend danken. Deshalb will ich der Band für die Dekaden ihrer Musik danken.